Dez. 2016/Jan. 2017 - Ausgabe 185
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Auf der Post von Ursula Steinweg |
Zuerst vernahm ich ihre skandierende Stimme, eine eintönige Litanei, die auf die Dauer eine beruhigende, betäubende Wirkung auf sie ausüben mußte. Sie sprach immer die gleichen Worte, die sich nach einem unerklärlichen Rhythmus wiederholten, mit der immer gleichen, monotonen Stimme, an einen tibetischen Lama erinnernd, mitten auf dem Postamt Bergmannstraße: »Das hätte nicht sein müssen - jetzt ist es passiert - das hab ich nicht erwartet - es hatte ja so kommen müssen - jetzt ist es passiert.« Ich dachte: Ja, jetzt ist es passiert, und wollte etwas sagen, vielleicht: »Tja, das kann schon mal passieren!« Oder »Was soll man da machen?« - Aber als ich ihre dumpfen Augen sah, die durch mich hindurchschauten, wurde mir klar, daß sie mich nicht hören würde. Die Frau ging an uns vorbei, ignorierte all die ungeduldig Wartenden und schob, kaum war sie vorne beim Schalter angelangt, der Postbeamtin ihren Brief hin. Das Ganze geschah so schnell und für die schon lange in der Schlange Ausharrenden so unerwartet, es verstieß derart gegen die herrschenden Gesetzmäßigkeiten, daß es bei ihnen keine andere Reaktion auslöste als ein sprachloses, unsägliches Staunen. Schon hatte die Beamtin den Brief in der Hand, das Heft mit den Briefmarken aufgeschlagen, und es hätte nur noch weniger Sekunden bedurft, und die Sache wäre erledigt gewesen, als eine Frau aus der Reihe Einspruch erhob: Nein, das gehe nicht, die junge Dame müsse sich genau wie alle andern hinten anstellen. So etwas, dachte ich, wäre in Kreuzberg vor zehn Jahren undenkbar gewesen! Die Beamtin, die nur noch Hände, Formulare, Zahlscheine sah, schaute plötzlich auf, sah die verärgerten Gesichter, schloß sich kurzentschlossen der aufgebrachten Mehrheit an und schob den Brief mit der Bemerkung zurück, daß sich alle hinten anstellen müßten. Die verwegene junge Frau aber verstand das nicht. Wortlos schob man sich an der abseits Wartenden vorbei zum Schalter. Als aber eine gewisse, ihr angemessen erschienene Zeit vergangen war, unternahm die Frau einen zweiten Versuch, ihren Brief einzureichen. Noch einmal machte man sie ärgerlich darauf aufmerksam, daß sie sich hinten anstellen müsse. Aber die Frau war sich keiner Schuld bewußt, blieb neben dem Schalter stehen und begann leise ihre Litanei zu murmeln. Das rief endlich lautstarke Empörung hervor. Man fühlte sich provoziert. Das Murmeln der jungen Frau brach ab, irritiert blickte sie in die unerfreulichen Gesichter, brachte ein kurzes Lächeln hervor und wollte sich hinten anstellen. Ich war inzwischen am Schalter und rief: »Geben Sie mal her, ich mache das für Sie!« Ich war neugierig, was die Leute sagen würden, wenn jetzt einer so aus der Reihe tanzte. Aber sie sagten nichts. • Die »Open Page« ist eine journalistisch-literarische »Open Stage«. Hier ist Platz für Texte von Lesern, die nicht ins Konzept passen, die wir Ihnen aber auch nicht vorenthalten möchten. |